Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil
vom 15. März 2012 III R 29/09 entschieden, dass sich ein behindertes
Kind nicht schon allein deshalb selbst unterhalten kann, weil es einer
Erwerbstätigkeit nachgeht.
Das
seit seiner Geburt gehörlose Kind der Klägerin besuchte zunächst eine
Gehörlosenschule und erlernte anschließend in einem Bildungswerk für
Hör- und Sprachgeschädigte den Beruf der Beiköchin. Beiköche arbeiten
nach Anleitung und unter Aufsicht erfahrener Köche. Sie werden
üblicherweise in Großküchen von Krankenhäusern, Altenheimen und
ähnlichen Einrichtungen tätig. Das Kind war nach Abschluss seiner
Ausbildung zunächst als Köchin tätig. Nach einer Phase der
Arbeitslosigkeit fand es dann eine Anstellung als Küchenhilfe in einer
Fleischerei. Trotz der jeweiligen Erwerbstätigkeit war es nicht in der
Lage, mit den hieraus erzielten Einkünften seinen gesamten Lebensbedarf
zu decken.
Die
steuerliche Berücksichtigung eines behinderten Kindes setzt nach § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes voraus, dass das Kind
wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Das Finanzgericht (FG) entschied, dass der Klägerin danach kein
Kindergeld zustehe. Da ihr Kind einer Erwerbstätigkeit nachgehe, sei es
in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Dass der
Verdienst des Kindes nicht ausreiche, um den gesamten Lebensbedarf zu
decken, liege nicht an der Behinderung, sondern an den geringen Löhnen,
die im Beruf der Beiköchin gezahlt würden.
Der
BFH folgte dieser Betrachtungsweise nicht. Seines Erachtens ist primär
die Frage zu stellen, warum ein Kind, das arbeitet, von seiner Hände
Arbeit dennoch nicht leben kann. Das kann auf unterschiedlichsten
Gründen beruhen. So kann das allgemeine Lohnniveau so niedrig liegen,
dass auch ein nicht behinderter Mensch nicht in der Lage wäre, mit einer
Vollzeittätigkeit seinen Lebensunterhalt zu decken (z.B. prekäres
Arbeitsverhältnis). In diesem Fall könnte das Kind steuerlich nicht
berücksichtigt werden, weil nicht die Behinderung, sondern die schlechte
Arbeitsmarktsituation ursächlich dafür ist, dass das Geld zum Leben
nicht reicht. Es kann aber auch so sein, dass das Kind von vornherein
in Folge seiner Behinderung in der Berufswahl dermaßen eingeschränkt
ist, dass ihm nur eine behinderungsspezifische Ausbildung mit späteren
ungünstigen Beschäftigungsmöglichkeiten offensteht. Wenn man wegen
seiner Behinderung überhaupt nur im Niedriglohnsektor eine bezahlte
Arbeit findet, dann ist die Behinderung die eigentliche Ursache für die
Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Nichts anderes gilt, so der BFH
weiter, wenn das Kind wegen seiner Behinderung in seiner
Leistungsfähigkeit derart eingeschränkt ist, dass es von vornherein nur
einer Teilzeitbeschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen
kann. Welche Ursache letztendlich für die Unfähigkeit des Kindes, sich
selbst zu unterhalten, verantwortlich ist, hat das FG als
Tatsachengericht festzustellen. Der BFH hat daher die Rechtssache an das
FG zurückverwiesen.
Pressemitteilung Nr. 40 vom 06. Juni 2012
zum Urteil vom 15.03.2012 II R 29/09
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